Was ist WingTsun für mich?

Was ist WingTsun? Eine Frage mit viele Antworten…

… die für jeden unterschiedlich sind. Auch ich habe Schwierigkeiten mit der Erklärung, was eigentlich Wing Chun ist. Warum? Je länger ich diesen südchinesischen KungFu-Stil ausübe, umso mehr erkenne die Vielfältigkeit von ihm.

Die folgende Definition von mir stammt aus dem Jahre 2009, hat aber noch immer Gültigkeit für mein Leben.

WingTsun ist Selbstverteidigung

Das stimmt ganz sicher. Aus diesem Grund habe ich 1998 selbst damit begonnen.

Nachdem ich etliche Auseinandersetzungen beobachtet habe und einigen nur ganz knapp entkommen bin, wollte ich etwas lernen, mich zu verteidigen. Dies sollte ein Stil sein, der sehr direkt, realitätsbezogen und trotz meiner leichten körperlichen Beeinträchtigung (nach einem Autounfall) anwendbar war. Zudem durfte Kraft nicht ausschlaggebend sein, denn davon hatte ich nicht wirklich viel .

WingTsun ist harte Arbeit an sich selbst

Sehr oft habe ich mich zu Beginn über meinen steifen, ungelenkigen Körper und mich selbst geärgert,

  • wenn ich Übungen, die bei anderen so einfach ausgesehen haben, nicht nachmachen konnte…
  • manchmal war ich verzweifelt, da ich die notwendige Lockerheit nicht einmal ansatzweise umsetzen konnte. So war ich für die anderen immer ein “dankbarer” Übungspartner, dem ohne große Anstrengung die Balance genommen werden konnte…
  • nicht nur einmal habe ich wegen meiner scheinbaren Begriffsstutzigkeit meinen Lehrer gefragt, ob ich der erste Mensch bin, der unfähig oder zu alt für WingTsun ist.

Dieser hat mir dann das große Geheimnis verraten: “Üben, üben, üben und niemals aufgeben!” Die Konsequenz daraus: seit 2001 bin ich erfolgreich als hauptberuflicher WingTsun-Lehrer mit einer eigenen Schule selbstständig :-).

WingTsun ist lebensverändernd

Von meiner ersten Begegnung mit Großmeister Kernspecht ist mir ein Ausspruch von ihm in Erinnerung geblieben, mit dem ich zu Beginn nicht viel anfangen konnte: “…und seid vorsichtig, denn WingTsun ‘verdirbt’ den Charakter“.

„Was sollte denn das körperliche Training bzw. Selbstverteidigungs-techniken mit dem Charakter zu tun haben? Ja sicher, im Fall des Falles nicht überreagieren und immer im Rahmen der Notwehr handeln, aber sonst?“

Heute lächle ich, wenn ich an damals denke. Meine ursprüngliche Motivation, WingTsun zu erlernen und selbstverteidigungsfähig zu werden, ist nur die erste, körperliche Ebene – und die ist relativ bald erreicht.

Je mehr und intensiver ich mich aber mit WingTsun beschäftigt habe, umso mehr habe ich gespürt und für mich erkannt, was das wirklich Wichtige hinter dem Offensichtlichen ist. So durfte die zweite und dritte Ebene von WingTsun für mich entdecken.

WingTsun ist gelebte Spiritualität

Ich habe begonnen mich zu verändern. Zuerst nur in kleinen Schritten, fast unmerklich, nicht geplant oder gewollt und für mich selbst anfangs auch nicht erkennbar.

Doch immer öfter habe ich von Freunden Aussagen gehört wie “…du bist irgendwie anders…früher war dir das egal…warum machst du das jetzt nicht mehr…”. Eines Tages habe ich erkannt, was passiert war. Durch das konstante Training und die kontinuierliche Beschäftigung mit WingTsun haben sich mein eigenes Denken, meine Einstellungen sowie meine Sichtweise schleichend, doch umso gravierender verändert.

Speziell die dritte Ebene hat für mich immer mehr an Wichtigkeit zugenommen. Diese richtet sich nicht nach außen, sondern tief nach innen auf das eigene Selbst.

Durch das Sich-Selbst-Bewusst werden war es möglich, unbewussten Verhaltensmustern, Zwänge und negative Glaubenssätze wahrzunehmen. Negativen Emotionen wie Wut, Aggression, Angst, Ungeduld, Scham, Zorn konnten akzeptiert werden. Damit war der Beginn geschaffen, dass schlussendlich innere Heilung stattfinden konnte.

Nach über 15 Jahren kann ich Großmeister Kernspecht nur Recht geben: WingTsun verdirbt den Charakter, aber in einem absolut – für jeden individuell – positivem Sinne 🙂 .

Sifu Martin